Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 11. Januar 2021: Blick; Pascal Tischhauser.
Blick: "160 Millionen Franken sparte das Schweizer Asylwesen dank Corona. Doch die nächste Migrationswelle stehe an, sagt Staatssekretär Mario Gattiker."
Der höchste Schweizer Asylchef, Mario Gattiker (64), atmet auf. Die Asylzentren kamen 2020 gut durch die Pandemie. Doch Corona dürfte auf die Migration nach Europa für die Zukunft weitreichende Auswirkungen haben, sagt der Staatssekretär am Telefon.
Herr Gattiker, die Schweiz verzeichnete 2020 sehr wenige Asylgesuche. Warum?
Wir verbuchten 11 041 Asylgesuche. Anfang Jahr waren wir von 15 000 bis 16 000 Gesuchen ausgegangen. Die Abweichung führen wir auf die Corona-Pandemie zurück. Dadurch haben wir im Asylbereich gegenüber dem Budget 2020 ungefähr 160 Millionen Franken eingespart. Wir gehen davon aus, dass Corona auch weiterhin ein Faktor bei der Asylmigration bleibt.
Wie viele Asylsuchende infizierten sich mit Corona?
Wir hatten erstaunlich wenige Ansteckungen. Die Asylbetreuungsorganisationen und unsere Mitarbeitenden haben in den Bundesasylzentren hervorragende Arbeit geleistet und den Asylsuchenden die Corona-Regeln verständlich gemacht. Das war anspruchsvoll. So hatten wir nur 230 Ansteckungen und glücklicherweise keinen einzigen Todesfall. Ich verhehle nicht, dass mir Corona Anfang Jahr wegen unserer Kollektivunterkünfte sehr, sehr grosse Sorgen gemacht hat.
Werden Sie auch dieses Jahr tiefe Kosten haben?
Vermutlich schon noch, eine klare Aussage ist schwierig. Derzeit erarbeiten unsere Fachleute die neuste Prognose. Bis diese steht, gehe ich persönlich von Zahlen aus, wie wir sie 2019 hatten. Also von wieder etwa 15 000 Gesuchen. Danach allerdings dürfte sich die Lage verändern.
Und wie?
Wegen des coronabedingten wirtschaftlichen Abschwungs in vielen Regionen und wegen daraus resultierender innenpolitischer Spannungen dürfte es zu vermehrter Abwanderung kommen. Mittelfristig müssen wir also von einer deutlichen Zunahme der Asylzahlen in ganz Europa ausgehen. Und damit auch von steigenden Kosten. Ich rede hier von den Jahren 2022 bis 2025.
Sie glauben also an eine Asylwelle wegen Corona?
Wir müssen mit klar höheren Zahlen rechnen, ja. Das Staatssekretariat für Migration steht mit dieser Einschätzung nicht alleine. Zahlreiche internationale im Migrationsbereich tätige Organisationen erwarten eine solche Zunahme nach dem Ende der Pandemie. Wie gross diese ausfallen wird, ist heute schwierig einzuschätzen. Wir müssen das aber im Auge behalten und uns darauf gut vorbereiten. Dazu gehört auch die konsequente Fortführung unserer Politik, die auf beschleunigten Asylverfahren basiert und dafür sorgt, dass wir weiterhin kein bevorzugtes Zielland sind für Menschen ohne echte Asylgründe.
Sie haben trotz tiefer Asylzahlen Asylheime eröffnet. Warum?
Dank guter Unterstützung durch Kantone und Gemeinden konnten wir 2020 fünf zusätzliche Asylunterkünfte eröffnen, ja. Dafür sind wir dankbar. Diese brauchten wir trotz der tiefen Asylzahlen, um die Corona-Mindestabstände auch in den Bundesasylzentren jederzeit zu gewährleisten. Wir lasten die Zentren darum nur zu gut 50 Prozent aus. Damit wir diese Corona-Vorgaben auch künftig sicher einhalten können, suchen wir schon jetzt Unterkünfte. Wir können nicht erst Kapazitäten aufbauen, wenn die Asylsuchenden in der Schweiz sind.
Wie viele Betten brauchen Sie?
Derzeit verfügen wir über 2500 Plätze, dank deren wir übers Jahr 15 000 Asylgesuche bewältigen können - es gibt ja immer wieder Abgänge, sodass Betten frei sind und wieder neu besetzt werden können. Es braucht eine Reserve, falls die Migration wieder zunimmt. Das Notfallkonzept sieht je nach Szenario bis zu 8000 Unterbringungsplätze beim Bund vor. Damit können wir auch hohe Eingänge bei über 30 000 Asylgesuchen auffangen.
Plätze werden frei, weil Sie abgewiesene Asylbewerber zurückschicken. Das ist zu Corona-Zeiten nicht unumstritten.
In der ersten Welle bis im Sommer haben wir kaum jemanden in seine Heimat zurückgeführt. Aber als über die Ferienzeit die Reisebeschränkungen gefallen sind und auch wieder Flüge zur Verfügung standen, konnten wir unseren Rückführungsauftrag wieder konsequenter wahrnehmen. Das Staatssekretariat für Migration ist nicht legitimiert, einfach nach eigenem Gutdünken die Rückführungen zu stoppen. Gerade Überstellungen nach den Dublin-Regeln, wonach Asylsuchende in jenes europäische Land zurückmüssen, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben, waren in den Sommermonaten wieder möglich. Inzwischen verzeichnen wir bei der Zahl der Ausreisen in aussereuropäische Länder wieder 60 Prozent des Vorjahresniveaus.
In den Asyllagern auf Samos und Lesbos herrschen schlimme Zustände.
Ja, Griechenland hat humanitär eine schwierige Situation. Die Bilder, die wir sehen, lügen leider nicht. Die Lösung für die Probleme liegen aber in Griechenland selber.
Machen Sie es sich hier nicht zu einfach? Die Schweiz tut nichts und sagt, die Griechen sollen selbst schauen.
Halt, die Schweiz unterstützt Griechenland seit Jahren, und zwar engagiert und sehr konkret. Unser Land nimmt unbegleitete minderjährige Asylsuchende ohne Eltern aus Griechenland auf, wenn sie einen Bezug zur Schweiz haben. In diesem Jahr waren das immerhin rund 90 Minderjährige. Und wir leisten humanitäre Hilfe vor Ort und unterstützen die griechischen Behörden seit Jahren mit verschiedenen Projekten, etwa im Bereich der Strukturen für Familien und Kinder. Die Schweiz hat auch die Trinkwasserversorgung für Kara Tepe aufgebaut, also fürs Nachfolgelager des abgebrannten Moria-Lagers.
Mit der Aufnahme einiger Kinder mit Verwandten in der Schweiz helfen wir nur wenigen.
Immerhin gehört die Schweiz zu jenen europäischen Staaten, die am meisten Minderjährige aufgenommen haben. Eine Umverteilung der Asylsuchenden in Griechenland auf andere Staaten ist jedoch keine Lösung. Die Griechen müssen die notwendigen Unterbringungsstrukturen selber zur Verfügung stellen und funktionierende Asylverfahren garantieren. Europa, und auch die Schweiz, unterstützen sie dabei. Wir haben nicht mehr die Situation wie 2015 und Anfang 2016, als über eine Million Menschen anlandeten und Griechenland dringend auf die Solidarität aller Schengenstaaten angewiesen war. Für 2020 dürfte Griechenland etwas über 15 000 Anlandungen verzeichnen, noch 2019 waren es 75 000.
Anderes Thema: Grossbritannien hat einen Handelsvertrag mit der EU geschlossen. Dieser kennt keine fremden Richter. Beim Rahmenabkommen müssten wir solche aber akzeptieren. Muss die Schweiz hier nachverhandeln?
Hier kann ich bloss bestätigen, dass wir mit der EU im Gespräch sind, um die drei vom Bundesrat definierten Punkte zu klären: Unionsbürgerrichtlinie, Lohnschutz und die Frage der staatlichen Beihilfen. Der Bundesrat hat seine Position am 11. November beschlossen und festgelegt, weiter nicht zu kommunizieren. Daran halte ich mich.
Aber nach dem Brexit ist die Situation eine andere: Das Vereinigte Königreich muss sich nicht dem Europäischen Gerichtshof unterstellen, wir uns aber schon. So sieht das Rahmenabkommen noch schlechter aus.
Sie können es gerne noch einige Male versuchen. Ich halte mich daran, nichts dazu zu sagen.
Letzte Änderung 11.01.2021