Interview, 5. September 2020: St. Galler Tagblatt; Michael Genova
St. Galler Tagblatt: "Ein Ja zur Begrenzungsinitiative würde die Ostschweizer Industrie besonders hart treffen, warnt Bundesrätin Karin Keller-Sutter."
Sie warnen mit Stadler-Rail-Chef und SVP-Politiker Peter Spuhler vor der Begrenzungsinitiative der SVP. Wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Allianz?
Wir sind beide Ostschweizer, und die Ostschweiz ist von dieser Initiative besonders betroffen. 55 Prozent der Schweizer Exporte gehen in die EU, in der Ostschweiz sind es im Durchschnitt sogar zwei Drittel. Stadler Rail gehört zu den grössten Ostschweizer Industriebetrieben und würde einen Wegfall der bilateralen Verträge schmerzlich spüren.
Warum haben Sie für Ihren Auftritt das neue Stadler-Werk in St. Margrethen gewählt?
Stadler Rail hat am Standort St. Margrethen sehr viel investiert. Das Unternehmen beschäftigt viele Fachkräfte, davon sind 20 Prozent Grenzgänger. Und beim Blick in die Werkhallen sieht man Doppelstockzüge, die nach Schweden und Österreich exportiert werden.
6000 Personen pendeln täglich aus Vorarlberg in den Kanton St. Gallen. Auch die benachbarten Länder haben ein grosses Interesse, sich mit der Schweiz zu einigen.
Würde die Begrenzungsinitiative angenommen, muss die Schweiz den ersten Schritt machen. Der Initiativtext verlangt vom Bundesrat, dass er die Personenfreizügigkeit kündigt, sollte er mit der EU innerhalb von zwölf Monaten keine Lösung finden. Das ist keine gute Verhandlungsposition für die Schweiz. Zudem würden alle sieben bilateralen Verträge automatisch ausser Kraft gesetzt, da sie rechtlich miteinander verknüpft sind.
Auch für die EU steht wirtschaftlich viel auf dem Spiel.
Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014 machte der Bundesrat die Erfahrung, dass die EU überhaupt nicht auf Gespräche eingetreten ist. Damals ging es nur um eine Änderung der Personenfreizügigkeit. Und heute verlangt die Begrenzungsinitiative wörtlich die Kündigung, sollte man sich mit der EU nicht einigen können.
Ein Rheintaler Unternehmer sagte in unserer Zeitung, es sei schon vor der Personenfreizügigkeit möglich gewesen, Fachkräfte im Ausland zu rekrutieren. Was entgegnen Sie?
Natürlich wäre dies möglich. Wir können wieder ein bürokratisches Kontingentsystem einführen. Nur: Lohnt es sich, dafür die Bilateralen aufs Spiel zu setzen? Ich bin in einem Gewerbebetrieb aufgewachsen und habe erlebt, wie das Kontingentsystem funktionierte. Dabei spielten die Beziehungen zu den Behörden eine wichtige Rolle. Oft wurden Grossunternehmen bevorzugt, und kleinere Firmen hatten das Nachsehen.
Was sagen Sie als Wirtstochter aus Wil einer 55-jährigen Serviceangestellten, die Angst hat, ihren Job an eine Einwanderin zu verlieren?
Ich habe Verständnis für diese Angst, die bei vielen älteren Arbeitnehmern vorhanden ist. In keiner Untersuchung konnte jedoch nachgewiesen werden, dass es zu einer Verdrängung von Schweizer Arbeitskräften kommt. Auch der Bundesrat will nur so viel Zuwanderung wie nötig. Deshalb hat er ein Massnahmenpaket verabschiedet, um inländische Arbeitnehmer zu stärken. Zum Beispiel durch Laufbahnanalysen und Beratungen für ältere Arbeitnehmer. Zudem hat das Parlament für absolute Härtefälle, deren Zahl wir auf etwa 1500 schätzen, eine Überbrückungsrente beschlossen.
Ist die Überbrückungsrente ein Eingeständnis, dass es eben doch zu einer Verdrängung kommt?
Diese Massnahmen hätten wir so oder so ergreifen müssen. Wir haben in der Schweiz auch ohne Zuwanderung aus der EU die Herausforderung, ältere Arbeitnehmer im Arbeitsmarkt zu behalten. Das hängt auch mit der demografischen Entwicklung zusammen. In den nächsten Jahren werden rund 800000 Personen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und nur 500000 kommen nach.
Liechtenstein darf trotz EWR-Mitgliedschaft die Einwanderung begrenzen. Hat das Fürstentum besser verhandelt als die Schweiz?
Der Vergleich mit dem Fürstentum Liechtenstein ist gewagt. Das Fürstentum hat 38700 Einwohner und einen Ausländeranteil von 34 Prozent. Dazu kommen noch 20000 Grenzgänger pro Tag. Das gibt einen Ausländeranteil von über 50 Prozent. Die Schweiz hat 8,5 Millionen Einwohner und einen Viertel Ausländer. Ich finde es deshalb richtig, dass Liechtenstein damals eine Ausnahmeregelung erhalten hat. Denn Liechtenstein ist etwa so gross wie die Stadt Fribourg. Hätte Fribourg die volle Personenfreizügigkeit, würde das niemals funktionieren.
Die Coronakrise hat Europa wirtschaftlich hart getroffen. Steigt nun die Zuwanderung?
Durch die Krise dürften kurzfristig Arbeitsplätze verloren gehen. Und wenn keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden, gibt es auch kaum Zuwanderung. Es wäre jedoch fahrlässig, in einer wirtschaftlichen Krise die bilateralen Verträge auf Spiel zu setzen. Dann droht uns eine zweite Krise. Der Bundesrat tut im Moment alles, um der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Wir haben dafür bislang etwa 21 Milliarden Franken ausgegeben. Es wäre fahrlässig, sich in einer solchen Situation ins eigene Fleisch zu schneiden. Wohlstand und Arbeitsplätze verlangen ein Nein zur Initiative.
Weitere Infos
Dossier
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Begrenzungsinitiative – Bundesrat will Personenfreizügigkeit nicht kündigen
Der Bundesrat lehnt die Volksinitiative "Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungs-Initiative)" ab. Die Initiative verlangt das Ende der Personenfreizügigkeit mit der EU. Sie gefährdet den bilateralen Weg der Schweiz. Ohne das Freizügigkeitsabkommen (FZA) und die damit verknüpften Verträge verlieren die Schweizer Unternehmen den direkten Zugang zu ihrem wichtigsten Markt. Dies zu einem Zeitpunkt, in dem die Wirtschaft Perspektiven für Wege aus der Coronakrise braucht. Eine Annahme der Initiative hätte einschneidende Konsequenzen für die Arbeitsplätze und unseren Wohlstand.
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Interviews
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Letzte Änderung 05.09.2020