Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 30. Dezember 2021: Blick; Pascal Tischhauser.
Blick: "Der abtretende Asylchef Mario Gattiker erwartet mehr Flüchtlinge, falls die Pandemie im Frühling abflaut."
Ende Jahr ist Schluss: Mit mehrfacher Verspätung geht Migrationschef Mario Gattiker in Rente. Aber nicht, ohne einen Ausblick auf das Asyljahr 2022 zu geben.
Herr Gattiker, Sie galten mal als oberster Bademeister im Land.
Sie sprechen wohl das Schwimmbadverbot von 2013 in Bremgarten an. Damals haben wir mit der Gemeinde eine Regelung getroffen, die zu wenig durchdacht war. Weil sich Badegäste gestört fühlten durch Asylsuchende, haben wir deren Zahl im Schwimmbad beschränkt. Dieser Eingriff in die Freiheitsrechte war falsch. Das Beispiel zeigt, wie herausfordernd die Verankerung von Asylunterkünften in den Gemeinden ist.
In Ihrer Anfangszeit als Chef ging vieles schief. Warum lief beispielsweise in der aargauischen Gemeinde Bettwil eine Gemeindeversammlung aus dem Ruder?
Wir hatten die Bevölkerung zu wenig mitgenommen. Aber wir haben viel daraus gelernt. Seither haben wir Gemeinden und Kantone immer auf Augenhöhe einbezogen. Und wir haben gelernt, dass es baurechtliche Erleichterungen braucht, damit man in einer Krise zu Asylunterkünften kommt. Dem haben wir in der späteren Asylreform Rechnung getragen.
Die Asylreform wurde 2016 mit 67 Prozent Ja-Stimmen klar angenommen. Sie brachte schnellere Verfahren.
Es ist ruhiger geworden. Es ist nicht immer so ruhig. Aber aktuell haben wir tiefe Asylzahlen in der Schweiz. Bis Ende Jahr werden wir etwa 14 500 Asylgesuche verzeichnen. Dies hat mit Corona zu tun, aber auch mit Massnahmen an der Schengen-Aussengrenze – wiezum Beispiel dem Griechenland-Türkei-Deal. Die tiefen Zahlen sind zudem das Ergebnis unserer Migrationspolitik. Wir wollen jenen Flüchtlingen Schutz bieten, die ihn brauchen, und unattraktiv sein für Migrantinnen und Migranten, die keine Asylgründe haben. Die hohe Schutzquote zeigt, dass uns dies gut gelingt.
Mit wie vielen Asylgesuchen rechnen Sie 2022?
Wir gehen von etwa 15 000 neuen Asylgesuchen aus. Aber: Es gibt eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit als 2021, dass ein Szenario mit bis zu 25 000 neuen Gesuchen im 2022 eintritt.
Was wären die Voraussetzungen dafür?
Wenn sich die Corona-Lage ab dem Frühling entschärfen sollte, was wir ja alle hoffen, bremst das Virus die Migration weniger als jetzt. Höhere Zahlen wären aber auch eine Folge davon, dass auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Nordafrika und Italien wieder mehr Menschen unterwegs sind. Schon in diesem Jahr sind die Anlandungen in Italien gestiegen.
Corona hat die Migration alsogebremst. Erwarten Sie so etwas wie einen Nachholeffekt?
Die politische Instabilität steigt in vielen Ländern, weil die Pandemie die wirtschaftliche Not verschärft hat. In Afrika hat sie bereits zugenommen. Äthiopien ist am Rand eines Bürgerkriegs. Das Land liegt in einer Region, in der etwa fünf Millionen Flüchtlinge leben. Auch die Lage in Libyen ist höchst instabil. Allein in Westafrika hatten wir dieses Jahr drei Staatsstreiche: in Mali, im Tschad und in Guinea. Es könnten also Situationen entstehen, vor denen Menschen fliehen. Dann würden die Gesuchszahlen steigen. Zudem verschärfen der Klimawandel und die demografische Entwicklung gerade in Afrika den Abwanderungsdruck.
Aktuell kommen an unserer Ostgrenze besonders viele Afghanen in die Schweiz. Die Asylgesuche von Afghanen steigen. Warum?
Corona hat die Balkanroute Richtung Westeuropa blockiert. Diese Blockade ist im Sommer weggefallen. Wir sehen eine grosse Zahl von Migrantinnen und Migranten, die Griechenland verlassen und nach Westeuropa weiterwandern. Es sind vor allem syrische Staatsangehörige, aber auch Afghanen, die in Griechenland oft Schutz bekommen haben. Dies, weil die Integration der Flüchtlinge in Griechenland ungenügend ist.
Und die Afghanen wollen vor allem zu uns?
Nein, die Hauptzielländer sind Deutschland, Frankreich und Grossbritannien, weil es dort grosse Diasporas gibt. Diejenigen, die nach Deutschland reisen wollen, zweigen in Österreich nach Norden ab. Diejenigen, die nach Frankreich oder Grossbritannien möchten, passieren die Schweiz. Sie stellen meist kein Asylgesuch, sondern reisen rasch weiter. Einsperren können wir diese Migranten laut geltendem Recht ja nicht. Also bemühen sich das Grenzwachtkorps und die St. Galler Kantonspolizei im Rheintal um eine möglichst gute Kontrolleund die Einhaltung der Einreisebestimmungen.
Nun endet für Sie die Zeit als Staatssekretär – und Sie haben ein neues Projekt: Sie eröffnen zusammen mit Partnern ein Beratungsbüro. Was für eins?
Es ist eine kleine Gruppe von befreundeten Experten aus Politik, Recht und Wissenschaft. Wir möchten unsere vielfältigen Erfahrungen im Bereich der Migrationspolitik weitergeben. Unser Ziel ist es, bei Bedarf Regierungen, Behörden und Organisationen mit unserem Fachwissen zu unterstützen.
Dann wird es also nichts damit, mehr Zeit in Ihrem Ferienhaus im Süden zu verbringen?
Man kann ja auch vom Ferienhaus aus arbeiten (lacht). Ich habe sicher nicht vor, im bisherigen Ausmass weiterzumachen. Ich freue mich darauf, wieder einmal ein Buch zu lesen und mehr Zeit mit meiner Frau zu verbringen. Aber es ist doch schön, in den Jahren, in denen man noch fit ist, am einen oder anderen Projekt mitzuarbeiten. Ich habe mich jahrzehntelang mit Migration beschäftigt, weil mich die Thematik interessiert und nicht, weil ich Karriere machen wollte. Migration gehört zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit. Ich möchte weiterhin mithelfen, Grundlagen für gute Lösungen zu erarbeiten. Darauf freue ich mich.
Letzte Änderung 30.12.2021