Obwohl der Begriff «Identität» in unserer Alltagssprache einen festen Platz hat, bleibt er diffus und unbestimmt. Tatsächlich haben sich verschiedene Sozialwissenschaften bemüht, zu beschreiben, was der Identitätsbegriff beinhaltet.
Es besteht ein Grundkonsens, dass Identität nicht naturgegeben ist, sondern einem fortlaufenden Prozess unterliegt und dabei bewusst oder unbewusst geformt und beeinflusst wird: Man wird erst, wer man ist. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, und die eigene Identität ist stets vorläufig und fragil. Gerade in Krisensituation kommt es vor, dass man seine Identität in Frage stellt, sich desorientiert fühlt und sich seiner selbst sowie seiner Position in der Gesellschaft unsicher wird. Aus dieser Erkenntnis lässt sich eine allgemeine Definition von Identität ableiten: Identität bedeutet, sich zurechtzufinden, die eigene Position zu kennen, im Alltag, in seinem Umfeld und in der Welt. Das Definieren von Identität dient der Eigen- wie auch der Fremddarstellung. Jedes «ich bin…» beinhaltet implizit immer eine Differenz oder Abgrenzung vom «andern».
Individuelle und kollektive Identität
Oft wird Identität über die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen definiert, weshalb von «kollektiver Identität» gesprochen wird. Kollektive Identitäten werden gebildet, wenn mehrere Personen sich aufgrund geteilter Identitätsmerkmale miteinander verbunden fühlen. Ein Kind lernt durch sein direktes Umfeld, welche Gruppen es unterscheiden soll, welchen es selber zugeordnet wird und von welchen es sich abzugrenzen hat. Unterscheidungen nach sozialem Status, Hautfarbe, Religion, Nationalität und vielem mehr werden einem Kind durch sein Umfeld vermittelt. Manche Zuschreibungen, ob durch Familie, den Staat, dem Kultur- oder Sportverein, werden dabei bewusst oder unbewusst gefördert. Würde dasselbe Kind in einem anderen Umfeld grossgezogen, könnten Zugehörigkeiten zu anderen Kollektiven relevant werden, und die Frage nach der eigenen Identität würde möglicherweise anders beantwortet.
Wandelbare Zugehörigkeiten
Je nach Situation wird im Alltag eine andere Zuschreibung in den Vordergrund gestellt. Identität ist somit sehr vielschichtig und kann nicht auf einen spezifischen Aspekt reduziert werden. Entsprechend wird der Satz «Ich bin…» nicht immer gleich beantwortet: Je nach Kontext bin ich eine Europäerin, ein Schweizer, aus Zürich, Hobbymusikerin oder christlichen Glaubens. Jeder Mensch vereint in sich viele verschiedene Zugehörigkeiten, die je nach Situation und Kontext ihre jeweilige Wichtigkeit und Bedeutung erhalten.
Des Weiteren können Ereignisse, beispielsweise ein aktueller Konflikt, Identitätszuschreibungen massgeblich beeinflussen, und eine religiös, ethnisch oder nationalstaatlich begründete Zugehörigkeit tritt in den Vordergrund. Beispielsweise hätte ein Mann in Sarajevo um 1980 stolz erklärt: «Ich bin Yugoslawe.» Auf dem Höhepunkt des Krieges in den 90er Jahren hätte er sofort geantwortet: «Ich bin Muslim.» Und fragte man ihn heute, so würde er sich wohl als Bosnier bezeichnen.
Oft wird behauptet, die moderne Gesellschaft sei eine individualistische, in der die Selbstverwirklichung jedes einzelnen im Zentrum steht. Im Gegensatz zur «traditionellen Gesellschaft» mit statischen Rollen und Regeln könne in der «modernen Gesellschaft» mit verschiedenen Identitäten experimentiert werden. Die Freiheiten individualistischer Lebensweisen zeigen die vielfältigen Möglichkeiten der Identität. Damit wird die Suche nach der eigenen Identität aber auch erschwert und kann den Wunsch nach klaren Leitlinien wecken, z.B. in der Hinwendung zu einer nationalistischen Politik, zu einer religiösen Gruppe mit klaren Regeln, oder zu Sub- und Jugendkulturen.
Identitätspolitik: Verwendung von Stereotypen und Instrumentalisierung
Der Begriff der «kollektiven Identität» wird manchmal in einem anderen Sinn verwendet: Dem Kollektiv selbst wird eine bestimmte Identität zugeschrieben, das heisst alle Mitglieder dieses Kollektivs teilen angeblich dieselbe Identität. Es handelt sich dabei um eine Vereinheitlichung von vermeintlich Typischem und um die Bildung von Stereotypen. Im alltäglichen Umgang ordnen wir leichtfertig unterschiedliche Menschen einer Gruppe zu und schreiben ihnen kollektive Eigenschaften oder Handlungen zu: «Die Berner sind langsam…», «Ausländer sind laut…», «Muslime unterdrücken Frauen…».
Mit Identität wird Politik gemacht – und zwar sowohl in der Abgrenzung nach aussen wie auch bei der Stärkung nach innen. Damit lassen sich einerseits grosse Gruppen mobilisieren; sie werden aber auch bei Konflikten instrumentalisiert. In Rwanda und Burundi zum Beispiel wurde die Zugehörigkeit zur Gruppe der Hutu oder Tutsi zu einer Frage von Leben und Tod, während in europäischen Ländern politische Parteien ihre Wähler mobilisieren, indem sie behaupten, «das Volk» zu vertreten. Solche Verallgemeinerungen mögen zwar wichtig sein, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen, sie werden jedoch der Realität nicht gerecht, da Bedürfnisse und Interessen innerhalb einer Gruppe jeweils sehr unterschiedlich sein können.
Letzte Änderung 24.06.2024