Begrenzungsinitiative – Medienkonferenz von Bundesrätin Keller-Sutter

Bern, 22.06.2020 - Medienkonferenz; Bundesrätin Karin Keller-Sutter - es gilt das gesprochene Wort

Geschätzte Damen und Herren

Ich freue mich, dass Sie heute Zeit gefunden haben für unser Thema. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Eigentlich hätten wir, das wissen Sie, im Mai über die Begrenzungsinitiative abstimmen sollen und wegen der Corona-Pandemie musste die Abstimmung bekanntlich verschoben werden. Dass wir im September jetzt wie gewohnt wieder Volksabstimmungen haben, das freut mich sehr. Und es freut mich auch, dass die epidemiologische Lage es auch erlaubt hat, vor einer Woche die Grenzen mit der EU/EFTA wieder vollständig zu öffnen und damit auch die Personenfreizügigkeit mit den EU/EFTA-Staaten wiederherzustellen.

Das ist ein wichtiger Schritt für unsere persönliche Freiheit, für unsere Volkswirtschaft und damit für unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze in diesem Land. Es ist ein wichtiger Beitrag zum wirtschaftlichen Neustart nach der Krise.

Ich werde heute von den Sozialpartnern begleitet. Eine funktionierende Sozialpartnerschaft ist ein zentraler Faktor für die Stabilität unserer Wirtschaft. Und die Sozialpartner sind auch entscheidend in der Begleitung der Personenfreizügigkeit.

Wenn wir die bilateralen Verträge und die stabilen Beziehungen zu unseren Nachbarn aufs Spiel setzen, riskieren wir sehr viel. Genau das will aber die «Initiative für eine massvolle Zuwanderung». Angesichts der erheblichen Unsicherheiten als Folge der Corona-Krise ist es jetzt aber nicht die Zeit für politische Experimente. Es wäre auch ohne Corona-Krise nicht die Zeit für politische Experimente aber die Situation hat sich etwas verschärft. Es kann nicht angehen, dass unser Wohlstand gerade jetzt in Frage gestellt wird.

La pandemia ci ha anche ricordato quanto siano importanti i lavoratori UE per alcuni settori: nel solo Ticino, oltre 4000 frontalieri italiani lavorano nel ramo socio-sanitario. La Svizzera occidentale e la regione di Basilea occupano oltre 20'000 operatori socio-sanitari provenienti dalla Francia. E anche l'agricoltura ha capito di non poter rinunciare al lavoro stagionale.

Die Begrenzungsinitiative, über die wir im September abstimmen, verlangt das Ende dieser Personenfreizügigkeit. Die Initianten behaupten, dass unsere inländischen Fachkräfte zu Gunsten von europäischen Arbeitnehmern verdrängt werden - weil diese bereit seien, für niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu arbeiten.

Der Bundesrat, meine Damen und Herren, will nur so viel Zuwanderung wie nötig. Die Personenfreizügigkeit soll eben jene Zuwanderung unbürokratisch ermöglichen, die nötig ist. Mehr nicht. Und weil es im Zusammenhang mit der Freizügigkeit gewisse Risiken gibt, hat der Bundesrat von Anfang an flankierende Massnahmen ergriffen, um Dumping bei den Löhnen und bei den Arbeitsbedingungen zu verhindern.

Heute wissen wir aus Studien, dass inländische Arbeitskräfte seit Einführung der Freizügigkeit vor 18 Jahren kaum durch EU-Arbeitskräfte verdrängt wurden und werden. Das zeigt, dass die flankierenden Massnahmen wirken und es zeigt auch, dass die Arbeitgeber ihre Verantwortung wahrnehmen.

Nicht nur der Bundesrat, sondern auch die hier anwesenden Sozialpartner, haben darüber hinaus viel unternommen, um sicherzustellen, dass die inländischen Arbeitskräfte wettbewerbsfähig bleiben. Ich erwähne hier die Stellenmeldepflicht in Berufsarten mit hoher Arbeitslosigkeit, von der Stellensuchende in der Schweiz profitieren. Und das Massnahmenpaket, das der Bundesrat vor einem Jahr gestützt auf einen Vorschlag der hier anwesenden Sozialpartner zugunsten der inländischen Arbeitskräfte verabschiedet hat. Es enthält sieben Massnahmen zur Förderung der Weiterbildungen oder auch Coachings. Diese Massnahmen richten sich speziell an Personen über 50 Jahren - sie sollen gezielt gestärkt werden, damit sie im Arbeitsmarkt bleiben können. Und für ausgesteuerte Arbeitslose kurz vor der Pensionierung hat nach dem Bundesrat jetzt auch das Parlament die Überbrückungsleistung beschlossen.

Nun geht es bei der Abstimmung am 27. September aber nicht nur um die Personenfreizügigkeit. Als Teil der Bilateralen I ist das Freizügigkeitsabkommen eng mit sechs weiteren, für die Wirtschaft zentrale Abkommen, verknüpft. Es geht daher im September auch um die grundsätzliche Frage, ob wir den bewährten bilateralen Weg aufs Spiel setzen wollen oder nicht.

Wir sind als Land mitten in Europa nicht nur kulturell mit den EU-Mitgliedsstaaten eng verbunden, sondern vor allem auch wirtschaftlich. Die EU ist mit Abstand unsere wichtigste Handelspartnerin: So sind allein die Exporte der Schweiz nach Baden-Württemberg um ein Drittel grösser als unsere Exporte nach China insgesamt.

Les accords bilatéraux sont le chemin que la Suisse a choisi, en toute indépendance, pour régler ses relations avec son principal partenaire commercial. Nous avons taillé cette voie sur mesure. C'est aussi le choix du peuple suisse, qui a décidé de ne pas adhérer à l'Union européenne, ni participer à l'Espace économique européen. Nous avons choisi de négocier des accords bilatéraux, secteur par secteur, pour bénéficier de relations stables, sur lesquelles nos citoyens et nos entreprises, petites, moyennes et grandes, peuvent compter. Nous pouvons voyager librement, et exporter la production de nos entreprises dans les 27 pays de l'Union européenne pratiquement sans obstacles.

Die sieben Abkommen der Bilateralen I sind die ersten bilateralen Abkommen, die die Schweiz nach dem Nein zum EWR ausgehandelt hat. Sie sind der Kern des bilateralen Wegs und sie regeln im Wesentlichen den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Rechtlich sind diese Verträge mit der so genannten Guillotine-Klausel miteinander verbunden Das heisst: Falls die Begrenzungsinitiative angenommen würde, und die Schweiz das FZA kündigen müsste, würden alle Verträge der Bilateralen I automatisch ausser Kraft treten. Dieser Automatismus scheint mir wichtig zu sein, nachdem immer wieder gesagt wird, man könne dann verhandeln. Aber der Vertrag sieht einen Automatismus vor für das Ausserkrafttreten der Bilateralen I.

Damit würde die Schweiz unter anderen Folgendes verlieren:

  • das Recht der Schweizerinnen und Schweizer, ihren Wohnort und Arbeitsplatz innerhalb der EU frei wählen.
  • die automatische Anerkennung der Konformität von Industrieprodukten, die den Schweizer Unternehmen viel Zeit und Geld spart.
  • den Zugang unserer Unternehmen zu zusätzlichen Beschaffungsmärkten.
  • die Möglichkeit, dass Schweizer Bauern ihre Erzeugnisse im EU-Raum frei verkaufen können.
  • die Beteiligung an Forschungsprogrammen der EU.
  • die Rechte, die den Schweizer Fluggesellschaften einfacheren Zugang zu gefragten Destinationen ermöglichen.
  • Und, zuletzt noch, das Abkommen, welches die Verlagerung des Transports auf die Schienen fördert und somit für weniger Lastwagen auf Schweizer Strassen sorgt.

Es besteht darüber hinaus auch das Risiko, dass mit dem Wegfall der Bilateralen I auch die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen infrage gestellt wären. Das hätte weitere Folgen - in erster Linie für die Sicherheit, das Asylwesen, aber auch für den Grenzverkehr und unsere Reisefreiheit. Man vergisst zuweilen, dass der Schengen Vertrag explizit Bezug nimmt auf die Personenfreizügigkeit. Das ist inhaltlich aneinandergekoppelt, nicht rechtlich, aber inhaltlich.

Nun meine Damen und Herren, auch wegen des bilateralen Weges war die Schweizer Volkswirtschaft vor der Corona-Krise hervorragend aufgestellt und die Arbeitslosigkeit tief. Nun haben wir ein gemeinsames Ziel: Die Wirtschaft soll sich so rasch wie möglich erholen können und so konkurrenzfähig werden wie vor der Krise. Es geht darum, unsere Arbeitsplätze und damit unseren Wohlstand zu sichern. Dazu brauchen die Unternehmen Stabilität und weiterhin einen möglichst hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Kurz, sie brauchen eine Perspektive - und sicher keine riskanten Experimente.

Der Bundesrat, das wissen Sie, Sie waren oft anwesend an den Medienkonferenzen des Bundesrates, hat sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht und viel Energie und Kraft hineingesteckt, die Schweiz durch die Krise zu führen. Wenn wir heute von Normalität sprechen, meinen wir oft die Lockerungen, die Gesetzeslockerungen, die auch heute wieder in Kraft treten. Die Lockerungen im Alltag, das bezeichnen wir als Normalität. Aber Teil der Normalität ist es auch, dass der Bundesrat unser Land auch wirtschaftlich aus der Krise führt. Das kann nur gelingen, wenn wir die Beziehungen zu unserem wichtigsten Handelspartner nicht aufs Spiel setzen. Die Begrenzungsinitiative setzt eben den bilateralen Weg aufs Spiel. Bundesrat und Parlament empfehlen, die Initiative abzulehnen. Und die Sozialpartner lehnen sie ebenfalls ab. Deshalb sind sie heute hier vertreten.

 


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