Interview, 19. Oktober 2024: Tages-Anzeiger; Charlotte Walser, Florent Quiquerez
Der Justizminister sieht sich auf dem «richtigen Weg»: tiefere Asylzahlen, weniger Pendenzen, mehr Rückkehrer. In der Schweiz laufe vieles besser als in anderen Ländern.
In der europäischen Asylpolitik überschlagen sich die Ereignisse. Polen hat diese Woche angekündigt, das Asylrecht auszusetzen. Und in Rom hat ein Gericht entschieden, dass Italien die nach Albanien verfrachteten Asylsuchenden wieder zurücknehmen muss. Auch in der Schweiz sorgt die Asylpolitik für heftige Diskussionen. Wie beurteilt Bundesrat Beat Jans (SP) die jüngsten Entwicklungen? Und wie reagiert er auf die anhaltende Kritik?
Herr Bundesrat Jans, wie stark fühlen Sie sich als Asylminister unter Druck – auf einer Skala von 1 bis 10?
Ich würde sagen: 5. Das ist normal, Bundesräte sind immer unter Druck, aber ich lasse mich dadurch nicht beirren. Ich habe klare Ziele und einen Kompass. Meine Asylpolitik ist menschlich und lösungsorientiert – und immer im Rahmen der Verfassung.
Diese Woche haben Sie einen neuen Migrationschef ernannt, einen Insider. Hätten Sie mit der Wahl eines Externen nicht eher Ruhe ins Asyldossier bringen können?
Das Asylsystem funktioniert grundsätzlich gut, jetzt machen wir es noch besser. Ich freue mich, dass Vincenzo Mascioli bereit ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich bin überzeugt, dass er der richtige Mann ist. Er ist ein erfahrener Praktiker.
Auf europäischer Ebene gab es in den vergangenen Tagen überraschende Entwicklungen. Polen hat angekündigt, das Asylrecht auszusetzen. Ist das der Anfang vom Ende der Flüchtlingskonvention?
Ich hoffe es nicht. Die Ankündigung von Donald Tusk ist eine Reaktion auf die Migrationssituation an der Grenze zu Weissrussland. Russland instrumentalisiert dort Migrantinnen und Migranten, um die westlichen Länder zu destabilisieren. Das verurteilt der Bundesrat aufs Schärfste. Vor diesem Hintergrund ist Tusks Entscheid zu verstehen. Wir erwarten aber, dass die Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten wird. Das haben viele Länder zum Ausdruck gebracht. Gewisse Machthaber und auch Terroristen wollen, dass wir unsere Werte über Bord werfen. Diesem Druck dürfen wir nicht nachgeben.
Die Stimmung in der Asylpolitik ist überall in Europa aufgeheizt. Sie könnte kippen. Wo sehen Sie die Hauptgründe dafür?
Ich sehe zwei Gründe. Erstens sind wegen des Ukraine-Kriegs sehr viele Flüchtlinge nach Europa gekommen. Das hat die Strukturen belastet, überall. Zweitens ist in der Politik Hektik ausgebrochen. Man kündigt Massnahmen an, die nichts nützen und die teilweise auch nicht umgesetzt werden können. Europa hat mit dem Migrations- und Asylpakt wichtige Entscheide getroffen, die helfen werden, das Asylsystem in Europa zu verbessern. Jetzt gilt es, diese umzusetzen.
Es wird aber bereits über weitere grundlegende Änderungen diskutiert – noch bevor die Reform in Kraft ist. Überrascht Sie das Tempo der Entwicklungen?
An der Ministerkonferenz vergangene Woche in Luxemburg wurde klar, dass der Migrationsund Asylpakt für alle wichtig ist. Man wünscht sich eine schnelle und konsequente Umsetzung. Vieles, was sonst noch gefordert oder angekündigt wird, ist wenig konkret. Deshalb werde ich darauf hinwirken, dass wir die EU-Reform konsequent umsetzen, auch in der Schweiz.
Italien will Asylverfahren in Albanien durchführen und dient dabei anderen Ländern als Vorbild. Nun hat ein Gericht Italien zurückgepfiffen.
Das zeigt, wie heikel solche Projekte in rechtlicher Hinsicht sind. Wir beobachten, wie es weitergeht. Wo ich so oder so eine grosse Herausforderung sehe: Italien müsste alle abgewiesenen Asylsuchenden von Albanien aus zurückführen, sonst wäre das Zentrum schnell überlastet. Es gäbe also auch praktische Probleme, die noch zu bewältigen wären.
In der EU scheinen auch Rückkehrzentren für abgewiesene Asylsuchende in Drittstaaten salonfähig zu werden. Was halten Sie davon?
Der Bundesrat hat sich bis jetzt skeptisch geäussert. Wir haben aber einen Auftrag vom Parlament, eine Auslegeordnung zu machen.Wenn sich solche Massnahmen als tauglich erweisen, prüfen wir das gerne. Wer aber hier schnelle Lösungen verspricht, verspricht zu viel.
Der Ruf nach neuen Lösungsansätzen wird auch in der Schweiz lauter.
Ich muss dazu etwas Grundsätzliches sagen.Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Die Asylzahlen waren im September 40 Prozent tiefer als im September 2023. Die Zahl der Pendenzen sinkt. Wir haben in diesem Jahr 25 Prozent von ihnen abbauen können. Die Rückkehrzahlen steigen, auch in diesem Jahr. Wir haben ein 24-Stunden-Verfahren eingeführt, das wirkt. Wir haben markant weniger Sicherheitsvorfälle in den Asylzentren. Wir haben halb so viele irreguläre Aufgriffe an der Grenze wie letztes Jahr. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Wie erklären Sie es sich, dass die Kritik trotzdem anhält?
Mich interessieren nur Fakten. Fakt ist, dass die Bevölkerung – links wie rechts – von uns funktionierende Lösungen verlangt. Fakt ist auch: Viele Menschen kommen in der Not zu uns, darunter Kinder, Jugendliche und Familien. Fake News, Schwarzmalerei und Angstmacherei beeindrucken den Bundesrat nicht. Polarisierung wird instrumentalisiert, bringt aber niemandem etwas.
Nicht nur die SVP, sondern auch die FDP greift Ihre Asylpolitik an. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Probleme zu wenig ernst genommen werden?
Meine Aufgabe ist es nicht, Parteipolitik zu beurteilen, sondern konkrete Vorschläge und Lösungen zu entwickeln. Für mich bleibt eine wichtige Maxime, dass wir die Flüchtlingskonvention einhalten und Menschen Schutz gewähren, die an Leib und Leben bedroht sind.
Der Nationalrat will den Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene verbieten. War dieser Entscheid eine Zäsur in der humanitären Tradition der Schweiz?
Mir ist die humanitäre Tradition der Schweiz sehr wichtig. Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Forderung sowohl die Verfassung als auch das Völkerrecht verletzt. Ich habe selbst zwei Töchter und bin davon überzeugt, dass wir das Recht auf Familienleben schützen müssen – mit den strengen Kriterien, die bereits heute gelten.
Verschlechtert hat sich in Ihrer bisherigen Amtszeit das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. Es heisst, es sei so schlecht wie schon lange nicht mehr. Vor kurzem haben die Kantone ihre Mitarbeit an der neuen Asylstrategie sistiert.
Es stimmt, die Kantone sind verärgert über das angekündigte Sparpaket des Bundesrats. Dieses schlägt auch Kürzungen im Asylbereich vor. Aber wir bleiben im Dialog. Wir sitzen alle im selben Boot: Viele Herausforderungen können Bund, Kantone und Gemeinden nur gemeinsam lösen.
Die Schweiz hat jüngst straffällige Afghanen zurückgeführt. Für nicht straffällige Afghanen gilt ein Rückführungsstopp, seit die Taliban an der Macht sind. Wollen Sie daran festhalten?
Wir haben bislang keine Änderung dieser Praxis beschlossen.
Sprechen wir über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Die EU will der Schweiz keine Schutzklausel gewähren. Ist das Abkommen dadurch zum Scheitern verurteilt?
Solche öffentlichen Verlautbarungen sind während Verhandlungen normal, das gehört zum Spiel. Die Verhandlungen laufen, bis sie zu Ende sind. Wenn beide Seiten gut verhandeln, können beide gewinnen. Die EU hat signalisiert, dass sie die Verhandlungen bis Ende Jahr abschliessen will. Das zeigt, dass sie an eine Einigung glaubt.
Das Nein zur Schutzklausel könnte aber die Chancen für die Nachhaltigkeitsinitiative erhöhen, mit der die SVP die Bevölkerung auf 10 Millionen begrenzen will.
Die Chancen der Initiative beurteilen wir, wenn wir alle Fakten auf dem Tisch haben. Der Bundesrat sagt aber klar, dass eine Annahme der Initiative der Wirtschaft, dem Wohlstand und auch der Sicherheit unseres Landes schaden würde.
Wie viele Menschen verträgt denn die Schweiz?
Die Frage ist nicht, wie viele Menschen wir wollen, sondern wie wir uns organisieren. Klar ist, dass wir auch in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sind. Aber die Skepsis gegenüber der Zuwanderung steigt. Wir nehmen das ernst.
Sie werden als Euro-Turbo bezeichnet.
Als Schweizer sind wir alle Europäer. Ich bin in Basel aufgewachsen, an der Grenze. In einer Stadt, die mit EU-Ländern zusammengewachsen ist. Ich habe schon als Junge meine Turnschuhe in Lörrach gekauft, weil ich sie mir in der Schweiz nicht leisten konnte. Ich weiss also, wie wichtig gute Handelsbeziehungen mit den Nachbarländern sind.Aber ich bin auch Bundesrat. Und der Bundesrat will stabile Beziehungen zur EU – in der aktuellen geopolitischen Lage erst recht.
Im Sommer gab ein Gastbeitrag von Ihnen in der NZZ zu reden. Dem Vernehmen nach kam Ihr Vorpreschen während der laufenden Verhandlungen mit der EU nicht sehr gut an.
Das kann man völlig anders sehen! Auf der Gegenseite – der EU – war es vielleicht auch motivierend, zu hören, dass der Bundesrat eine Lösung will. Das kann die Bereitschaft zu Kompromissen erhöhen.
Wie soll in der Schweiz eine Mehrheit für die Bilateralen III zustande kommen? Bislang ist von den Parteien wenig Begeisterung zu spüren.
Auch hier sind viel Taktik und Powerplay in Gang. Aber es ist klar, am Schluss braucht es erstens ein gutes Verhandlungsresultat und zweitens eine Koalition der Vernünftigen. Dann finden sich Mehrheiten.
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Letzte Änderung 19.10.2024